7. Der Landgraf erscheint persönlich in Hersfeld

Inzwischen hatte sich der Landgraf selber aufgemacht, um die Tätigkeit der Kommission durch seine persönliche Anwesenheit in Hersfeld unterstützen zu können. Die Erklärung des Stiftes wurde ihm daher mit allen dafür herangezogenen Aktenstücken sofort vorgelegt. Der Landgraf erklärte, die Kommission solle die von den Hersfelder Räten erhobenen Ansprüche, die die Teilnahme an den bischöflichen Rechten über die Pfarrkirche beträfen, auf sich beruhen lassen und sich genau an die von ihm gegebenen Instruktionen halten. Gegen die Übertragung des Diakonats an den Pfarrer Junius habe er nichts einzuwenden. Stöckenius dagegen könne aus besonderen Gründen nicht nach Hersfeld versetzt werden. Er sei es dagegen vollkommen zufrieden, wenn man den Stiftsprediger zu Hersfeld oder irgendeinen anderen mit den Verhältnissen der Stadt vertrauten Mann zum Pfarrer an der Stadtkirche ernennen wolle. Vor allen Dingen solle man aber das in der Instruktion vorgeschriebene Examen mit den Pfarrern, den Lehrern, den Beamten, mit dem Stadtrat und dem Schultheiß, mit den Zünften und mit der ganzen Bürgerschaft vornehmen. Würden sich dann die Prediger immer noch schwierig zeigen, so solle man sich zeitig nach Stellvertretern derselben umsehen, die durch Predigen und Lehren die Kirchenverb es serung so lange vorbereiten und unterstützen sollten, bis man die Kommunion nach dem neuen Ritus feiern und dabei einer hinreichenden Zahl von Kommunikanten versichert sein könnte. Die Bürgerschaft möge man zur Ruhe und Ordnung ermahnen und sie vor jedem Versuch einer rebellischen Auflehnung warnen. Man solle darauf hinweisen, daß der Landgraf derartige Exzesse - falls sie vorkommen sollten - in Hersfeld nicht weniger hart bestrafen werde, als es in anderen Orten geschehen sei. Außerdem ließ Moritz am an deren Tage den Stiftsräten eröffnen, es sei ihm im höchsten Grade befremdlich, daß sie sich ein Mitrecht an seinem ius episcopale anmaßen wollten. Er hoffe, sie hätten die Verkehrtheit ihres Auftretens schon eingesehen. Wenn sie aber bei ihren anmaßenden Forderungen beharren würden, so werde er sie bei dem postulierten Administrator des Stiftes so ausmalen, daß dieser mit Abscheu gegen sie alle erfüllt werden sollte. Da aber Erbprinz Otto, der Administrator, erst 14 Jahre alt war, kann man sich leicht ausmalen, daß Landgraf Moritz seinen Sohn leicht hätte beeinflussen können, die halsstarrigen Stiftsräte aus ihren Ämtern zu entfernen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß der Präsident mit dem Marschall und den übrigen Stiftsräten seinen größten Kummer darüber aussprach, daß Moritz ihre Erklärung so ungnädig aufgenommen habe. Dise Erklärung so beteuerten sie nochmals, sei aber durchaus nicht in der Absicht abgegeben worden, um eine willkürlich gefaßte Ansicht mit Halsstarrigkeit durchzusetzen, sondern um dem Administrator gegenüber das eigene Gewissen rein zu halten, weshalb sie auch die ganze Sache auf sich beruhen lassen würden.
Nachdem somit die vorbereitenden Erörterungen abgeschlossen waren, begab sich Moritz am Nachmittag dieses 29. Dezembers selbst in das Verhandlungszimmer der Kommissare. Er sprach sich den Stiftsräten gegenüber in einer ausführlichen Rede nochmals über die unbegründeten Einwände aus, die hin und wieder gegen die Verbesserungspunkte gemacht worden waren. Er versuchte nachzuweisen, daß er bei der Kirchenreform weit davon entfernt sei, den Boden der Augsburger Konfession zu verlassen. Er wolle gerade den Grundg edanken derselben von der alleinigen und absoluten Gültigkeit der Heiligen Schrift praktisch zur Ausführung bringen und die notwendigen Folgerungen der Synodalbeschlüsse verwirklichen. Er ließ dann den Pfarrer Vitus herbeirufen, um denselben in einer Diskussion von der Notwendigkeit der Einführung der Verbesserungspunkte zu überzeugen. Moritz eröffnete dem Pfarrer, daß er sich doch erinnern müsse, nun schon zum wiederholten Male aufgefordert worden zu sein, die Verbesserungspunkte in Hersfeld einzuführen. Er schätze ihn als einen besonders begabten Mann, der die Richtigkeit der Verbesserungspunkte einsehen und anerkennen müsse. Es tue ihm, dem Landgrafen, sehr leid, daß er sich nicht nur gegenüber allen früheren Kommissaren ablehnend verhalten habe, sondern auch auf das ihm zugegangene fürstliche Schreiben mit Ablehnung reagiert habe. Es sei für ihn zwar jetzt schwierig, für die Richtigkeit der Verbesserungspunkte die Belege aus der Heiligen Schrift und aus den Büchern der erlauchtesten Doktoren der Kirchen beizubringen; das sei aber auch im Moment überflüssig, da Vitus über diese Dinge sehr wohl unterrichtet sei; er wolle ihm aber nur dies sagen, daß er nämlich bedenken möge, wie sehr er durch seinen Ungehorsam gegen das klare Wort Gottes sein eigenes Gewissen gefährde. Die danach beginnende Disputation zwischen dem Landgraf und dem Pfarrer dauerte bis zum Abend des Tages und wurde am folgenden Tage mit der größten Lebhaftigkeit fortgesetzt. Moritz bot alles auf, um seinen hochgeachteten Widersacher zur Nachgiebigkeit zu bringen. Moritz erbot sich sogar, Vitus zum Hofprediger zu machen für den Fall, daß er das Brotbrechen einführen werde. Aber auch der 30. Dezember verging mit erfolglosen Disputationen, da Vitus allen Ermahnungen des Landgrafen mit unerbittlicher Strenge seine Gewissensbedenken entgegenhielt. Vitus wurde schließlich, da alles Diskutieren nicht fruchtete, von Landgraf Moritz für eine gewisse Zeit - der Aktenschreiber weiß es auch nicht genau - vom Amt suspendiert. So steht in der Eintragung im Stadtratsgedenkbuch: „undt ob wol Ihre f.g. selbst wie auch die hern comißarien mit M. Georgio Vito, den alten pfarhern dießer verbesserungspunkten und doktrinalien halben vielfertig (!) und nicht einmahl, sondern zum offternmahl gnedig und freundlich g eredt, das er sich hierzu bequemen, die Verbesserungspunkten annehmen und auch der lehr halben sich accomodieren wolte, der ratth auch bei ihm etzlichmahl vleißig angehalten, das er I.f.g. nicht refragieren, sich zu den verbesserungspunkten schicken und bei diser ihm anbefolen gemein, welche ihnen alle miteinander lieb und wehrt hielten, pleiben wolte, so hat doch solches alles bei ihm nichts verfangen wöllenn, darauff I.f.g. ihnen erstlich ein tag od. 6 ab officio suspendiert!" (1) Die Langatmigkeit der Niederschrift, die Wortwahl und der Inhalt zeigen ganz deutlich, daß der Pfarrer Vitus in Hersfeld sehr beliebt gewesen sein muß. Moritz verordnete, daß am Neujahrstag 1609 der Dekan Johann Stein von Rotenburg, am Dreikönigstag M. Clebius und zur Vesper der Pfarrer von Ronshausen die Predigten versehen sollten.
Nachdem Moritz verärgert wieder nach Marburg abgereist war, setzte die Kommission die Verhandlungen mit dem Kaplan und den Lehrern der Schule fort. Der greise Kaplan Abraham Raid gestand zwar ein, daß es ihm schwer falle, sich nach einer ruhigen vierundfünfzigjährigen Amtsführung noch mit Neuerungen befassen zu müssen; er erklärte jedoch, die Verbesserungspunkte annehmen zu wollen. Auch die beiden Lehrer Antonius Engelbrecht und Adam Kisner gaben die gewünschte Willfährigkeit zu erkennen. Der Rektor dagegen, dessen jämmerliche Erscheinung den Unwillen der ganzen Kommission erregte, bat - man weiß nicht, ist es Ernst oder Spott - ihn mit allen Verbesserungspunkten verschonen zu wollen, da ihn seine Gedächtnisschwäche daran hindere, das Bilderverbot im Dekalog auswendig zu lernen. An einem einzigen Psalm habe er einst mehrere Jahre lang lernen müssen.
Ein neuer Versuch, welchen Dekan Stein und der Stadtrat am Morgen des 31. Dezembers machten, den Pfarrer Vitus zur Nachgiebigkeit zu bewegen, schlug gleichfalls fehl. Vitus erklärte nämlich, er werde sich nur insofern zur Annahme der Verbesserungspunkte verstehen, als man ihm gestatten werde, das Brotbrechen als ein Adiaphoron anzusehen, das Bilderverbot mit Beibehaltung der bisherigen Einteilung des Dekalogs an das erste Gebot des lutherischen Katechismus anzuhängen und in der Lehre sich an die Augsburger Konfession, an die drei alten Symbole, die Schmalkaldener Artikel und an den Katechismus Luthers zu halten. Die Kommission wußte, daß sich Moritz auf solche Vorbehalte nicht einhalten würde. Sie forderten daher das Stift auf, zur Neubesetzung der Pfarrerst
elle Vorschläge zu machen. Die Stiftsräte konferierten über die erhaltene Aufforderung mit dem Stadtrat, dessen Wünsche nach ihrer Aussage bei der Besetzung geistlicher Stellen dem Herkommen nach gehört werden müßten. Sie präsentierten schließlich unter Bezugnahme auf den am 28.12,1608 erhaltenen Befehl einen geborenen Hersfelder, den M. Heinrich Clebius (Glebe), der z.Z. Pfarrer in Braach bei Rotenburg war.
(1) Stadtratsgedenkbuch, folio 121




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